Samstag, 2. Juli 2016

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Literatur


Silvia Tschui

Jakobs Ross
Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich, 2014


Magischer Realismus am Finstersee

Wenn die Sehnsucht sie packt, nicht nach einem Zuhause, denn das hatte sie nie, wenn das Fernweh sie packt, wenn sie lieber in Florenz und an der Musikakademie wäre, wenn sie lieber für Menschen singen und geigen würde, als in einem dreckigen Kuhstall zu hocken und nur die Kühe als Publikum zu haben: Dann singt Elsie das herzzerreissende Lied «vom Blüemlitaler Bauern, wo vor Heimweh in der Fremde verräblet». Ihr Heimweh ist die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben, nach einem Leben mit Musik, und möchte es auch dann noch ein armes Leben sein, so wäre es immerhin ein erfülltes Dasein.

Von der Magd Elsie erzählt Silvia Tschui in ihrem Romanerstling «Jakobs Ross», sie erzählt davon, wie Elsie erst mit ihrem Gesang die Tochter des Hausherrn entzückt, wie sie fortan auf einer Geige die Kraft und die Macht der Musik entdeckt und von einer Ausbildung an der Akademie in Florenz zu träumen beginnt. Und Silvia Tschui schildert die furchtbaren Wendungen, die diese Lebensgeschichte nimmt: Wie Elsie von dem Hausherrn geschwängert, wie sie mit dem Rossknecht auf einen abgelegenen Pachthof am Finstersee abgeschoben und aus allem herausgerissen wird, was ihr lieb ist und eine lichtere Zukunft versprechen mag.

Aber Silvia Tschui breitet ihre Geschichte nicht konventionell und schön der Reihe nach aus: Sie springt mutig vor und zurück, sie beschleunigt und verlangsamt, wie es die Ereignisse gerade erfordern, und gelegentlich erzählt sie die verschiedenen Stränge ihrer Geschichte simultan und nebeneinander, als sei ihr Text eine doppelt belichtete Fotografie. Das schafft eine enorme dramatische Verdichtung und atmosphärische Spannung, die freilich noch unterstrichen wird von einer dialektal gefärbten Sprache, die sich wohl zu gleichen Teilen von Gotthelfs geduckten Kleinbauern wie von Tim Krohns aufsässigen Glarner Berglern herleitet.

Das erfordert zu Beginn einiges an Konzentration, denn erst stolpern Auge und Zunge über die vielen «Flättere» (Ohrfeigen), oder wenn wieder einmal jemand «ebig» (ewig) wartet. Doch alsbald liest sich diese dialektale Kunstsprache, als hätte man nie etwas anderes gekannt, und sie hinterlegt die dramatisch wechselnde Farbigkeit dieses Romans, die bald düster grau, bald giftig rot und nur selten freundlich hell erscheint, mit einem urwüchsig erdigen Timbre, das nun seinerseits die Musik als das eigentliche Zentralmotiv des Romans begleitet und mit Wortklängen geradezu vertont und umspielt.
Wohl ist es allein dieser ungewohnten sprachlichen und klanglichen Virtuosität zu danken, dass man Elsies Unglücksgeschichte so gebannt wie gleichsam mit doppeltem Blick liest, indem einerseits die rasante und überraschungsreiche Handlung verfolgt und anderseits über die ungewohnten Schriftbilder die Musikalität dieser Prosa erhört wird. Denn Silvia Tschui erspart dieser Elsie und ihren Nächsten (wie freilich auch den Leserinnen und Lesern) kaum eine Grausamkeit: Vergewaltigung, Vertreibung, Abtreibung, Schläge und schliesslich, nach einem stürmischen Liebesabenteuer mit einem Jenischen, eine veritable Verfluchung.

Die 1976 geborene Autorin zeigt bereits mit ihrem Debüt, dass sie ihr Metier versteht. Sie hat am Bieler Literaturinstitut studiert und arbeitet heute als Journalistin in Zürich. In ihrem Roman zeichnet sie ein genaues Sittenbild dieser verarmten Bauernwelt am Finstersee (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) und zieht mit märchenhaften Elementen einen doppelten Boden in diesen opulenten Realismus. Gewiss neigt sie da und dort zu übertriebener Folklore (etwa wenn sie die Gegenwelt der Fahrenden ausmalt oder die dumpfen Bauerntölpel porträtiert). Und nach all dem Unglück in dem Buch mag der melodramatische, ja sentimentale Schluss vielleicht etwas aufgesetzt und auch konstruiert wirken.

Doch der Roman ist auch und vor allem eine Hommage an die magische Kraft der Musik, die – wie es hier wiederholt ganz elementar dargestellt wird – das eigene Leben und das Dasein anderer verändert. Und mit der Musik feiert das Buch darum auch die eigene Kunst: Denn wie die Musik weitet die Sprache Denkräume und Vorstellungsräume. Dieser Roman macht es auf so erfinderische wie aufregende Weise.    Roman Bucheli. NZZ


Leseprobe

Das Elsie kriegt eine Flättere!

Ja, wenn das Elsie das Lied vom Blüemlitaler Bauern, wo vor
Heimweh in der Fremde verräblet, nur wieder einmal in einem
Salong singen und fidlen könnte, anstatt in diesem Finsterseer
Chuestall nur das Rösli und das Klärli mit je einer Hampflen
Heu in der Schnörre als Publikum zu haben! All den feinen Herren
würd ob der traurigen Geschichte das Augenwasser nur so
heraussprützen. Und am Schluss täten alle klatschen, und das
Elsie wüsste, sie wär jetzt eine gemachte Frau.
So wie das eben hätte sein sollen, denkt sie beim Melken, mit
zwei feuerroten, vom Jakob links und rechts frisch geflättereten
Backen. Wenn sie den Jakob trotz allem nicht gehüratet hätte,
sondern halt auf eigene Faust nach Floränz gezogen wäre. Zu
Fuess und villicht sogar mit der Kutsche und später villicht bis
ans Meer.
Das hat das Elsie einmal auf einer gemalten Postkarte gesehen,
die hat ihr ein Herrschaftsfrölein mit Bernsteinaugen und
einem Herz wie aus Butter gezeigt. Da kann der Zürisee also
einpacken. Und wenn der Fabrikdiräkter nicht so eine hinterfotzige
Sau gewesen wäre, wär sie mitsamt dem Herrschaftsfrölein
mit dem Butterherz und den Bernsteinaugen den ganzen Weg
in der Kutsche nach Floränz gefahren.
Öppen acht Jahre vorher, da steht nämlich das Elsie im grössten
von allen Herrenhäusern in Wädiswil in der Küche. Singen
tuet sie auch, aber dermal eben als Chind. Und die roten Backen
kommen von einer Gluet beim Chämi. Dort schmelzt das Elsie
Wachs in einem grossen Topf. Das riecht derart nach Bienen und
Honig, dem Elsie ist zuerst der Goifer im Maul zusammengeloffen,
und jetzt ist es ihr schlecht ob dem ebigen Wachsgeruch, und
der Arm gheit ihr fast ab vom Rüehren, und zum den Takt Halten
singt sie: Vom Flügen und vom Tau. In den Wachs kommt
nachher Asche, zwei Liter auf fünf, und am Schluss Regenwasser,
acht Liter auf fünf, und das Elsie singt von Feuer und Wolken.
Dann kommt der Topf an einen Haken, ohne Gluet darunter,
und das Rüehren wird noch strenger, weil das Elsie während
dem Kallen die Wachsseife zusammenhalten muess, und sie kann
nur hoffen, dass in dem Moment an keinem von den Glockensträngen,
wo aus verschiedenen Zimmern in der Küche zusammenlaufen,
das Glöggli schellt, weil dann das Elsie unterbrechen
müesst und das Frölein Furrer suechen oder sonst ein Meitli, je
nach dem.
Wenn alles fest ist, fängt der Chrampf erst an: Dann schabt
das Elsie die Wachsseife in Tiegel, holt Lumpen, bindet Filzli um
die Knie und fängt an zu bohneren. Wenn sie amigs fertig ist mit
all den Zimmern, kann sie grad zuoberst wieder anfangen.
Das Elsie bohneret gern, das Holz von den Parkettböden
glänzt goldig, als ob es da noch öppis Weiches gäbe hinter der
schimmernden Oberfläche. Und wenn das Elsie poliert, werden
die glatten Bretter unter dem Streichlen vom Elsie tatsächlich
warm und fangen an, Geschichten zu verzellen, die wachsen durch
den Lumpen duren bis in ihren Bauch und steigen in ihr Herz,
und sind sie erst an Lunge und Zunge vorbei, sind die Geschichten
wie von selbst zu Wörtern und Melodien geworden.
Im Studierzimmer vom Diräkter mit dem Eichenboden singt
sie vom Sterben und davon, wie so ein Eichenast nach Saft schreit,
wenn ein Strick um ihn geschlungen wird, und Glieder nach Luft,
wenn so ein Hals am säbigen Strick hänkt. Öppendie handlen
die Lieder aber auch nur vom Wachsen, vom Regen oder davon,
was die Elstere Glänziges im Baum versteckt und warum in
einem anderen Wald drum ein Mann an einer Eiche verräblet.
Dem Elsie ist in dem Herrschaftshaus wohl, ausser wegen
dem Sticken und Flicken, wo die Mägde am Abig noch müessen.
Das hasst das Elsie, ihr geraten immer die Hohlsäume durenand,
und dann gibt es Chopfnüss, genauso wie wegen der Singerei.
Öppendie schletzt nämlich das Frölein Furrer die Tür auf und
zischt, sie heig dem Elsie schon hundertmal gesagt, sie solle mit
der Singerei aufhören, die Herrschaft well sicher ihre Rueh.
Dann muess das Elsie die Handrücken ausstrecken und warten,
bis ihr das Frölein Furrer mit einem tünnen Holz rechts und
links eins über die Knöchel haut. Und amigs gibt es eben auch
eine Chopfnuss, das ist, wenn das Elsie in einem Gang bohneret
und vor sich hin singt und es für das Frölein Furrer keine Tür zum
Schletzen gibt. Chopfnüss findet das Elsie fast besser als Tatzen,
weil dann die Hände nicht weh tuen beim weiterbohneren.
Und Chopfnüss, findet das Elsie, wie sie dann öppen acht Jahre
später beim Melken sitzt, sind vill besser gewesen, als wenn der
Jakob amigs mit seinen Fäusten daherkommt.


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