Dienstag, 19. Juni 2018

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Film


My stuff
von und mit Petri Luukkainen

Finnland 2013-15


Als Erstes kommt der Mantel

Ein Mann läuft nackt durch Helsinki, es ist der Beginn eines Experiments: Petri Luukkainen sperrt sein Hab und Gut in ein Depot, jeden Tag holt er nur einen Gegenstand heraus. Sein Ziel: herausfinden, was glücklich macht. 

Es gibt diese Killersätze aus Wohlstandsmündern; sie fallen, wenn die Kleinen im Bett sind und die ersten Flaschen Primitivo entkorkt. "Dieser ganze Kram, mit dem wir uns umgeben: Wer braucht den schon?", lautet einer von ihnen, gern gefolgt von: "Wie herrlich wäre mal ein Tag ohne Smartphone!" Dann nicken alle am Teakholztisch einträchtig, lächeln milde und schwenken die Rotweingläser, während auf dem Plattenspieler das neue Album von Neil young knisternd seine Runden dreht.

Radikaler Konsumverzicht klingt aufregend. Zumindest, wenn man genug besitzt. Allein: Wer setzt ihn in die Tat um? Der junge finnische Filmemacher Petri Luukkainen hat genau das getan. Mit 26 Jahren, als Single inmitten einer eher zarten als existentiellen Lebenskrise, wollte er wissen, was es braucht, um glücklich zu sein. Ein einjähriges Experiment begann. Dessen Verlauf lässt sich nun nachverfolgen, anhand des vergnüglichen Kinodebüts "My Stuff".

Luukkainens selbst auferlegte Regeln: Alles Hab und Gut lagert in einem Raum fernab der kahlen Wohnung. Pro Tag darf er sich genau einen Gegenstand aus dem Depot zurückholen, das gesamte Jahr über allerdings nichts Neues kaufen außer Lebensmitteln. Und so beginnt der Selbstversuch mit einem nächtlichen Sprint durchs verschneite Helsinki, splitterfasernackt, mit einer Zeitung die Scham bedeckend. Am Lager angekommen, fällt die Wahl des ersten Stücks - wie hätten Sie entschieden? - auf einen Mantel. Am nächsten Morgen spricht Luukkainen selbstzufrieden in die Kamera: Wenn man die Beine in die Ärmel stecke, gebe das Kleidungsstück einen veritablen Schlafsack ab. 

Es sei vorweggenommen, dass die große Frage nach den Bedingungen fürs persönliche Glück auch nach 365 Tagen nicht mit einem einzigen Gegenstand zu beantworten ist - doch Luukkainen begegnet ihr ohnehin mit dankenswerter Selbstironie. Er stilisiert sein Experiment nicht zum bierernsten Selbsterfahrungstrip, sondern mehr zum sympathischen Happening, von den Freunden zwar belächelt, aber doch tatkräftig unterstützt. Manchen Erkenntniswert liefert das Ganze trotzdem. So verzichtet Luukkainen vier lange Monate freiwillig aufs Handy - was sich als härtere Probe für die Freunde herausstellt als für ihn selbst. 

Elementar sind andere Dinge. Ein Hemd folgt auf Schuhe, nach einer Woche die Matratze. "Heute Nacht ist so viel Liebe in meinem Bett wie nie zuvor", murmelt Luukkainen, bevor er in den Schlaf abgleitet, erstmals wieder nicht auf dem nackten Fußboden. 

Improvisationskunst ist ständig gefragt: Die Fensterbank ersetzt den Kühlschrank, der Zeigefinger sowohl Zahnbürste als auch Streichmesser. Schon früh verzichtet Luukkainen wochenlang ganz darauf, Dinge aus dem Depot zu holen. Mit etwa hundert Gegenständen lasse es sich gut auskommen, stellt er fest.

Doch noch bevor das Interesse des Zuschauers an der Frage zu erlahmen droht, ob die nächste Wahl nun auf Frotteehandtuch oder Fischmesser fällt, tritt eine Frau in Luukkainens Leben. Der Film nimmt eine Wendung, und sie tut ihm gut. Nun steht nicht mehr nur Luukkainen selbst im Mittelpunkt - ist doch eine Ich-Geschichte immer auch narzisstische Fütterung -, sondern es stellt sich zugleich die Frage: Würde ich Verrat an meinem Experiment begehen, zugunsten der Liebe?

Eine große Stärke des Films besteht darin, dass er nicht belehrend daherkommt. Diese Gefahr hätte durchaus bestanden, schlüpft hier doch einer stellvertretend für uns alle in die Rolle des Versuchskaninchens. Doch "My Stuff" verzichtet auf den erhobenen Zeigefinger, auch auf eine universelle Moral der Geschichte. Jeder darf sich, so suggeriert der Film, aus ihr herausgreifen, was er mag, sich zunächst aber mal unterhalten lassen.
Dass "My Stuff" zum erstaunlich kurzweiligen Vergnügen gerät, liegt nicht zuletzt auch an Luukkainens filmischen Mitteln. Mit Rückblenden lockert er seinen Selbstversuch auf, für einen Dokumentarfilm sind die Einstellungen angenehm stilvoll inszeniert. Dazu taucht der finnische Jazzsaxofonist Timo Lassy die Bilder immer wieder in eine passende, melancholische Stimmung. Dass sich in der Geschichte derweil auffallend viele Dinge wie von Geisterhand fügen, macht ein wenig skeptisch; doch dem Film kommt es zugute.

Vordergründig krankt "My Stuff" nur an einem zentralen Punkt: Denn als jener konsumsüchtige Mensch, als den sich Luukkainen zu Beginn beschreibt, erscheint er gar nicht. Eine Kamerafahrt vor Beginn des Experiments zeigt die Wohnung eines durchschnittlichen Mittzwanzigers; Küchenmixer, Fernseher und Plattensammlung zählen zu den exaltiertesten Besitztümern des jungen Mannes.
Dem Film mangelt es so zwar an Fallhöhe, doch letztlich entpuppt sich gerade die Austauschbarkeit Luukkainens als Chance, bietet sie dem Zuschauer doch ungleich mehr Identifikationspotenzial, als das bei einem echten Konsum-Junkie der Fall gewesen wäre. Und der, so lässt sich vermuten, hätte sich diesen Wahnsinn ohnehin niemals angetan.

Kaspar Heinrich im Spiegel

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